Stühlinger Magazin 4–2018

Inhalt dieser Ausgabe:





Stühlinger Magazin 3–2018

Inhalt dieser Ausgabe:






Wie funktioniert die Freiburger Müllabfuhr?

Wahr­schein­lich haben Sie sich auch schon über Müll auf den Straßen auf­ge­regt, über hohe Müllgebühren oder feh­lende Mülleimer. Doch ist die Aufregung gerecht­fer­tigt, was sind die Gründe für den Müll auf Straßen und wie funk­tio­niert die Müllabfuhr eigent­lich? Um diese Fragen zu beant­wor­ten hat das Stühlinger Magazin recher­chiert und sich mit Herrn Broglin, dem Geschäftsführer der Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Freiburg (ASF) getrof­fen.
Die ASF wurde 2000 gegrün­det und über­nahm die Aufgaben der städ­ti­schen Müllabfuhr und Stadtreinigung. 53 % der ASF gehö­ren der Stadt, der Rest dem Unternehmen Remondis. Die ASF arbei­tet eigen­wirt­schaft­lich, das heißt, jeder kann bei ihr einen Service ein­kau­fen, nicht nur die Stadt. So holt die ASF auch Speisereste von Restaurants ab oder leert Altkleidercontainer im Auftrag von Vereinen. Die Aufstellung und Leerung der öffent­li­chen Mülleimer erfolgt als Auftrag der Stadt. Als der Oberbürgermeister am Seepark Mülleimer auf­stel­len ließ, hat die Stadt diese Dienstleistung bei der ASF ein­ge­kauft. Alle Tätigkeiten der Reinigung muss die Stadt aus ihrem Haushalt bezah­len und kann sie bei Unternehmen wie der ASF ein­kau­fen. Wie viele und wel­che Mülleimer es gibt und wie oft wel­che Straße gefegt wird, liegt damit in der Hand des Gemeinderats, der den städ­ti­schen Haushalt beschließt.

Abb.1: Reinigungsplan Stühliger Kirchplatz. rot schraf­fiert: GMF, blau schraf­fiert: ASF, unschraf­fiert: Kirchgemeinde

Für die Straßenreinigung gibt es einen Reinigungsplan, der vom Garten- und Tiefbauamt erar­bei­tet wird. Je nach Lage einer Straße wird sie mehr­mals täg­lich oder ein­mal monat­lich gerei­nigt. Die Häufigkeit vari­iert zudem je nach Jahreszeit, Veranstaltungen und Baustellen. Bei der Reinigung von öffent­li­chen Flächen über­nimmt teils das Gebäudemanagement Freiburg (GMF,) teils die ASF die Reinigung. Abb.1 zeigt den Reinigungsplan für den Stühlinger Kirchplatz. Man sieht, dass der Teil an der Schule von der GMF, der Rest von der ASF gerei­nigt wird. Der gepflas­terte Bereich rings um die Kirchenmauer wird hin­ge­gen von der Kirchgemeinde gerei­nigt. Es gibt also 3 ver­schie­dene Reinigungsgesellschaften für den Platz. Der Wind trägt weg­ge­wor­fe­nen Müll jedoch in alle Bereiche, so dass es sinn­voll wäre, wenn die Stadt den kom­plet­ten Platz ent­we­der der GMF oder der ASF über­trägt und die Kirchgemeinde die Reinigung auch bei die­ser Gesellschaft beauf­tragt. So könnte effek­ti­ver gerei­nigt wer­den.
An vie­len Stellen hat die Stadt die Mülleimer durch Edelstahlbehälter erset­zen las­sen. Diese sind robust, hal­ten auch einen Brand durch Zigaretten aus und sind spe­zi­ell beschich­tet, um sie von Graffiti und Aufklebern rei­ni­gen zu kön­nen. Ein Stahlbehälter kos­tet ca. 7 Mal so viel wie einer der oran­ge­nen Mülleimer, die an den Bushaltestellen hän­gen. Die Erfahrung ist, dass die oran­ge­nen Behälter zu oft zer­stört wer­den, beson­ders in der Innenstadt im Sommer. Insofern rech­nen sich die neuen Behälter und vor allem fliegt kein Müll mehr aus zer­stör­ten Behältern durch die Straßen.

Abb.2: Herr Broglin, Geschäftsführer der ASF

Während die Stadt alle Kosten der Reinigung trägt, wer­den mit den Müllgebühren die Kosten für die Müllabfuhr finan­ziert. Im bun­des­wei­ten Vergleich der Müllgebühren lag Freiburg 2016 im Mittelfeld, ca. 9% über dem Schnitt aller Großstädte. Insofern kann man nicht sagen, dass die FreiburgerInnen beson­ders belas­tet sind. Die Müllabfuhr erle­digt stadt­weit die ASF, dazu gehört auch der Sperrmüll. Die Müllgebühren sind auch des­we­gen über dem Bundesschnitt, da jeder Haushalt im Jahr 4 m³ Sperrmüll kos­ten­frei abho­len las­sen kann. In Würzburg z.B. muss man hin­ge­gen sei­nen Sperrmüll selbst zum Wertstoffhof brin­gen oder 5 €/m³ zah­len. In Freiburg genügt es, eine der Postkarten an die ASF zu schi­cken, die man jedes Jahr mit dem Müllkalender erhält. Obwohl das ein ver­schwin­dend gerin­ger Aufwand ist, stel­len immer mehr Leute ihren Sperrmüll auf die Straße, oft mit einem Zettel „zu ver­schen­ken“. Doch wer möchte Müll geschenkt haben? Selbst wenn ein paar Gegenstände tat­säch­lich von Passanten mit­ge­nom­men wer­den, so lädt ein Müllhaufen dazu ein, sei­nen Müll mit dazu zu wer­fen. Die Konsequenz sind immer mehr Müllhaufen in den Straßen und der Herbstwind trägt ihn in die Vorgärten. Das ist ein stadt­wei­tes Problem und betrifft die Wiehre genauso wie den Stühlinger. Jedes Sperrmüllfahrzeug der ASF ist mit meh­re­ren Leuten besetzt. Damit diese effek­tiv fah­ren, wird gemäß den Müllpostkarten eine Route ent­wor­fen. Wilde Müllhaufen erfor­dern neue Routen und da die Menge nicht klar ist, ist es zudem schwer abzu­schät­zen, wie lange man dafür braucht. Wilde Müllhaufen kön­nen daher erst nach eini­gen Tagen beräumt wer­den. Die Mehrkosten dafür müs­sen alle FreiburgerInnen tra­gen, denn Überstunden müs­sen selbst­ver­ständ­lich bezahlt wer­den. So hat die Beseitigung des Müllhaufens in der Ferdinand-Weiß-Str., über den auch die BZ berich­tet hatte, 2500 € gekos­tet. Je mehr es sol­che Müllhaufen gibt, umso mehr müs­sen die Müllgebühren erhöht wer­den. Das muss sich jeder klar machen, der etwas „ver­schen­ken“ möchte oder der sei­nen Müll dazu stellt. Wer beim Rausstellen erwischt wird, bekommt ein Ordnungswidrigkeitsverfahren und eine Rechnung der Beseitigung des Mülls.
Vom Sperrmüll abge­se­hen, sind wir Freiburger auf den ers­ten Blick vor­bild­lich. Wir pro­du­zier­ten 2016 pro Kopf 381 kg Haushaltsmüll, das sind 21 % weni­ger als der Bundesschnitt. Rechnet man den Elektroschrott dazu, pro­du­ziert jeder Deutsche jedoch 40 % mehr Müll als z.B. ein Spanier. Europaweit Spitze sind wir hin­ge­gen mit einer Recyclingquote von 66 % und nur 1 % des Hausmülls lan­det auf einer Deponie. Doch ist Recycling in jedem Fall gut und was pas­siert genau mit unse­rem Müll?
Müll wird getrennt gesam­melt, da er auch getrennt behan­delt wird.

  • Müll aus den kos­ten­pflich­ti­gen Tonnen wird in der Müllverbrennungsanlage TREA in Eschbach ver­brannt. Die dadurch ent­ste­hende Schlacke wird nebenan von der Schlackeverwertung Breisgau zu Baustoffen wei­ter­ver­ar­bei­tet und z.B. als Unterbau für Straßenbelag und zur Endabdeckung der geschlos­se­nen Deponie Eichelbuck ein­ge­setzt. Schlackereste, die nicht wei­ter ver­wen­det wer­den kön­nen, wer­den in Deponien der umlie­gen­den Landkreise ein­ge­la­gert.
  • Bauschutt wird von der ASF stoff­lich und im Volumen nur begrenzt ange­nom­men. Je nach Typ des Schutts fal­len dafür geson­derte Kosten an. Die ASF über­gibt den Schutt an dar­auf spe­zia­li­sierte Entsorgungsfirmen Firmen wie z.B. die FEBA. Sonderabfälle wie Asbest oder Mineralfasern wer­den auf der Deponie Kahlenberg in Ringsheim end­ge­la­gert. Wer eine Baustelle hat, muss eine Recycling­firma beauf­tra­gen und sich vor­her infor­mie­ren, wie er den Schutt vor­sor­tieren muss, damit er zur Abholung akzep­tiert wird.
  • Papier wird auf dem Gelände der Remondis an der Liebigstraße umge­schla­gen und dann meist nach Gernsbach aber auch deutsch­land­weit an Papierwerke ver­kauft. Recyclingpapier besteht aus bis zu 85 % Altpapier. Papier kann so fast kom­plett recy­celt wer­den. Daher ist der Kauf von Recycling-(Toiletten)Papier gut für die Umwelt.
  • Glas wird nach Farben getrennt gesam­melt, da es wie­der Sortenrein für neue Gefäße gegos­sen wird. Nach der Sammlung wird es eben­falls von Remondis umge­schla­gen. Weiß- und Grünglas wird an eine Glashütte in Achern gelie­fert, Braunglas an eine Glashütte in Bad Wurzach. Das sind erheb­li­che Transportwege von bis zu 200 km. Glas ist schwer, nicht sel­ten schwe­rer als der Inhalt. Die lan­gen Transportwege füh­ren daher zu einen hohen Ausstoß von CO2. Außerdem muss man Glas zum Schmelzen auf über 1200 °C erhit­zen. Der Umwelt hilft es daher enorm, wenn man Leitungswasser trinkt (evtl. Kohlensäure zugibt), das zudem bes­ser kontrol­liert wird als jedes Lebensmittel. Bei Getränken hat die Kunststoffflasche auf­grund ihres gerin­ge­ren Gewichts meist die bes­sere Ökobilanz und Flaschen nam­haf­ter Hersteller sind innen schon seit Längerem mit einer hauch­dün­nen Schicht Glas ver­se­hen, so dass man auch geschmack­lich das­selbe Ergebnis hat, wie wenn man aus einer Glasflasche trinkt. Mehrweg ist natür­lich auch bei Kunststoff die umwelt­freund­lichste Lösung.
  • Textilien wer­den in Altkleidercontainern, meist von gemein­nüt­zi­gen Vereinen gesam­melt. Die meis­ten Vereine haben einen Vertrag mit der ASF, die die Container betreut und bei jeder Leerung den Inhalt wiegt. Pro Tonne Altkleider zah­len Verwerter aktu­ell um die 300 €. Vom Erlös geht ein ver­trag­lich fest­ge­leg­ter Betrag an die Vereine. Die ASF sor­tiert manu­ell alles aus, was kein Textil ist. Danach über­neh­men andere Firmen. Diese sor­tie­ren gut erhal­tene Stücke aus und ver­kau­fen sie welt­weit im Second-Hand-Markt. Nicht ver­kauf­bare Kleidung wird eben­falls welt­weit wei­ter ver­ar­bei­tet. Typisch sind Fasern für die Dämmung von Autokarossen oder für Putzlappen. Was auch dafür nicht ver­wen­det wer­den kann, kann ver­brannt oder depo­niert wer­den. Da die Verwerter Geld für die Altkleider bezahlt haben, sind sie nicht daran inter­es­siert, Geld fürs Verbrennen oder Deponieren aus­zu­ge­ben und so sind unsere Altkleider auch oft Teil der Müllberge ande­rer Länder. Besonders Schuhe las­sen sich nur schwer recy­celn, da Sohlen aus Gummi mit ande­ren Kunststoffen und Leder ver­klebt sind. Jeder Deutsche wirft jedoch 5 paar Schuhe im Jahr weg. Insofern ist es sinn­voll, nicht mehr trag­bare Schuhe in die Restmülltonne zu geben, weil sie dann nicht ins Ausland gelan­gen. Was nicht mehr trag­bar heißt, ist in die­ser Broschüre anhand von Fotos erläu­tert.
  • Biomüll wird in die Remondis-Tochterfirma Reterra an der Tullastraße gelie­fert. Dort wer­den zuerst Metalle und best­mög­lich Kunststoffe aus­sor­tiert. Der Müll kommt dann für ca. 1 Monat zusam­men mit Wasser in einen Gärbehälter. Das ent­ste­hende Biogas wird gesam­melt und in Blockheizkraftwerken vor Ort und in Landwasser ver­brannt. Die gegärte Masse wird ent­wäs­sert. Die so erhal­tene Flüssigkeit wird als Flüssigdünger an Landwirte ver­kauft. Die fes­ten Reste wer­den getrock­net und dann gesiebt. Die gro­ben, hol­zi­gen Bestandteile wer­den in Biomassekraftwerken ver­brannt. Die fei­nen Anteile wer­den als Kompost an Landwirte und Gärtner ver­kauft. Dabei ist es ein gro­ßes Problem, wenn Bioabfall in Plastiksäcken ein­ge­wor­fen wird, denn die fei­nen Plastikfetzen von den Säcken kön­nen nur bedingt ent­fernt wer­den. Viele Fetzen landen im Kompost und gelangen so auf Felder und Gärten und blei­ben dort für Jahrzehnte.
  • Elek­tro­ge­räte wer­den unter ande­rem zur Firma ALBA Electronics Recycling in Lustadt gelie­fert. Dort werden die Geräte mit viel Handarbeit aus­ein­an­der­ge­baut und die Wertstoffe so sor­ten­rein vor­sor­tiert. Zur end­gül­ti­gen Gewinnung wer­den diese dann an wei­tere Firmen wie z.B. Kupferhütten gelie­fert.
  • Verpackungen wer­den in gel­ben Säcken gesam­melt. Die Stadt hatte 1994–95 ein­mal gelbe Tonnen, doch zu viele BürgerInnen haben darin ihren Hausmüll gewor­fen, um Kosten zu spa­ren. Die gel­ben Säcke wer­den an der Liebigstraße umge­schla­gen und an der­zeit 9 Firmen ver­teilt, die vom Dualen System beauf­tragt sind und von den Herstellern der Produkte bezahlt wer­den. Dabei wer­den die gel­ben Säcke weit gefah­ren, z.B. bis nach Neustadt an der Weinstraße. Dort wer­den sie sor­tiert. Metalle wer­den von Kunststoffen getrennt. Sortenreine Kunststoffe kön­nen schnell und effek­tiv her­aus­ge­fil­tert wer­den. Je nach Kunststoffsorte kann man neue Verpackungen her­stel­len, indem man bis zu 70 % Recyclingmaterial ver­wen­det. Problematisch sind Kunststoffmischungen. So bestehen klas­si­sche Kaffeekapseln aus 2–3 ver­schie­de­nen Kunststoffen, die man nicht mehr tren­nen kann. Man kann sol­che Kapseln daher nur als Rohölersatz z.B. bei der Zementherstellung ver­bren­nen. Kaffeekapseln sind gene­rell ein Frevel an der Umwelt, denn Kapseln aus Aluminium sind nicht bes­ser, aber Mischkunststoffe ste­cken auch in vie­len ande­ren Verpackungen. Um die Entwicklung in Richtung sor­ten­rei­ner Verpackungen zu len­ken, gilt ab 2019 ein neues Verpackungsgesetz, das die Recyclebarkeit för­dert.

Dass es in und um Freiburg keine Sortieranlage für Verpackungen gibt, erscheint erst ein­mal schlecht für die Umwelt. Man muss jedoch schauen, wo die Firmen sit­zen, die neue Verpackungen her­stel­len. Sitzen die z.B. im Rhein-Main-Gebiet, ist es kein Nachteil die gel­ben Säcke in der Pfalz zu sor­tie­ren. Doch jeder sor­tierte Wertstoff muss zu einem ande­ren Betrieb gebracht wer­den. Das ist ein so gro­ßer logis­ti­scher Aufwand, dass fast jeder sechste LKW auf den Autobahnen Müll/Recyclingstoffe trans­por­tiert. Auch wenn unsere Recyclingquote in Europa spitze ist, heißt das also nicht, dass es auch bes­ser für die Umwelt ist. Schlussendlich hilft nur Müll zu ver­mei­den. Und bei den Verpackungen kann jeder von uns noch viel spa­ren. Von den Flächenländern der EU pro­du­ziert nur Dänemark mehr Müll als wir; das zeigt das Einsparpotential.

Warum tickt der Osten anders?

Der Osten, schön saniert und trotz­dem teils leer.

Ein Redaktionsmitglied des Stühlinger Magazins wird als Ex-Ossi oft damit kon­fron­tiert, was denn in sei­ner alten Heimat los ist. Zum Tag der deut­schen Einheit hat er daher einen län­ge­ren Artikel geschrie­ben, durch den viel­leicht klar wird, warum es sol­che Unterschiede in den Ansichten und Denkweisen zwi­schen Ost- und Westdeutschen gibt.

Warum tickt der Osten anders?

Schön saniert und den­noch leer

Als Ex-Ossi werde ich oft damit kon­fron­tiert, was denn in mei­ner alten Heimat los ist. Mir fällt dabei auf, dass die meis­ten Medien nicht ver­mit­teln, warum die Ansichten und Denkweisen im Osten anders sind. Das kommt auch daher, dass es in den Chefredaktionen kaum Ostdeutsche gibt und dass auch in in Ostdeutschland selbst die über­wäl­ti­gende Zahl der Chefs, Richter, Generäle etc. aus dem Westen stam­men.

Da es ein län­ge­rer Artikel ist, emp­fiehlt sich etwas Musik zum Lesen: Moderat – A new error

Um die Gefühle von vie­len Ostdeutschen ver­ste­hen, gehen wir zurück in das Jahr 1990: Die Wende ist da, die Chance der Tristesse in maro­den Großbetrieben zu ent­ge­hen, nicht mehr wochen­lang per Tauschhandel Waren hin­ter­her­zu­ren­nen, die es ohne Westgeld nicht gab. Die Wende machte Hoffnung, dass man es nun mit har­ter Arbeit auch end­lich zu etwas brin­gen, in einem schö­nen Haus woh­nen und die Welt berei­sen kann. Man konnte nun auch selbst ein Unternehmen grün­den, etwas bewe­gen.
Das Problem daran waren die Startbedingungen. Stellen Sie sich vor, die spie­len Monopoly mit 5 ande­ren. Alle ande­ren haben das­selbe Startgeld, sie aber nur ein Fünftel davon. Wer wird gewin­nen und wer zuerst aus­schei­den? Probieren Sie es am bes­ten ein­mal aus, denn das prägt!
Übersetzt auf 1990 heißt das, 20% der Deutschen hat­ten so gut wie kein Startkapital. Am Ende der DDR lag das durch­schnitt­li­che Arbeitseinkommen bei 1140 Mark (der DDR). Nimmt man an, dass man etwa ein Drittel davon monat­lich anspa­ren konnte, wären das 380 Mark, also in 10 Jahren 45.600 Mark. Bei der Währungsunion 1990 konnte man das 2:1 in Westmark tau­schen, 4000 Mark sogar 1:1 (Details dazu siehe hier). Das heißt, das über 10 Jahre ange­sparte Geld war 24.800 Westmark wert. Immobilieneigentum gab es in der DDR sys­tem­be­dingt nur sehr sel­ten, daher war das ange­sparte Geld auch meist das Vermögen.
Seit 1990 haben sich die Kaufpreise für Wohnungen in etwa ver­dop­pelt. Heute kos­tet z.B. eine Wohnung in Dresden um die 120.000 €. Man kann also abschät­zen, dass der Kaufpreis 1990 um die 60.000 €, also 120.000 Westmark gele­gen hat. Dazu kommt, dass jede Wohnung erst ein­mal saniert wer­den musste. Das ange­sparte Geld reichte also nicht aus, um eine Wohnung, geschweige denn ein gan­zes Haus zu kau­fen. Dazu hätte man einen Kredit auf­neh­men müs­sen. Doch ohne Sicherheiten, gibt es kei­nen Kredit und das Gehalt wurde kaum als Sicherheit akzep­tiert, denn durch die Abwicklung der Betriebe wur­den die aller­meis­ten Menschen arbeits­los. Viele haben die 1990er Jahre mit Umschulungen, Arbeitslosigkeit und kurz­zei­ti­gen Beschäftigungen ver­bracht. Es konn­ten sich also nur Leute aus dem Westen und Westeuropa Häuser in Ostdeutschland kau­fen, denn diese hat­ten ent­we­der bereits das nötige Kapitel oder Sicherheiten für Kredite. So gehö­ren die meis­ten Mietwohnungen in Ostdeutschland Menschen, die nicht vor Ort woh­nen.
Viele Leute im Osten haben rea­li­siert, dass sie es nicht aus eige­ner Kraft schaf­fen kön­nen, Wohneigentum zu erwer­ben, denn der Markt wird von Menschen aus dem Westen befeu­ert, die ihr Geld anle­gen wol­len. Die Kaufpreise stei­gen daher auch in Ostdeutschland rasant, wäh­rend ein Drittel der Ostdeutschen weni­ger als 2000 € im Monat brutto ver­die­nen. Als Daumenregel gilt, dass man eine Wohnung nur kau­fen sollte, wenn man sie in 25 Jahren abbe­zah­len kann. Das hieße bei 120.000 € Kaufpreis, 25 Jahre lang jeden Monat 400 € zur Seite legen. Das kön­nen die Meisten nicht.

Wichtig für das Gefühl sind auch die ver­gan­ge­nen Jahre. Als 2016 der Mindestlohn ein­ge­führt wurde, hat z.B. in Sachsen fast jeder vierte Arbeitnehmer weni­ger als 8,50 €/Stunde ver­dient. Das heißt, dass viele Menschen in den Jahren seit der Wiedervereinigung kaum etwas anspa­ren konn­ten. Dazu kommt das Gefühl, unge­recht behan­delt wor­den zu sein. Sicherlich waren viele DDR-Betriebe nicht auf dem Weltmarkt kon­kur­renz­fä­hig, doch die, die es waren, wur­den als Konkurrenz wahr­ge­nom­men, teil­weise auf­ge­kauft und zer­schla­gen oder hat­ten ein­fach nicht das Startkapital, um am Markt zu bestehen. Hier zwei Beispiele: Keramikfabrik, Kühlschränke.
Dazu kommt die Psychologie, denn jeder Mensch braucht Bestätigung, dass er etwas Sinnvolles macht. In der DDR hat­ten z.B. hun­dert­tau­sende Menschen im Bergbau gear­bei­tet. Deren Arbeitsleistung wurde nicht hono­riert. Bergarbeiter waren die Sündenböcke für zer­störte Landschaften und sie wur­den kaum unter­stützt, in ande­ren Bereichen eine neuen Job zu fin­den. In Westdeutschland gab es hin­ge­gen Sozialpläne über teils Jahrzehnte, der Ausstieg aus dem Untertage-Bergbau wurde lang­sam und geplant voll­zo­gen. Dass Ostdeutsche Bergarbeiter nicht die­selbe Unterstützung beka­men und bis heute Nachteile haben, löst Wut aus.

Noch 2009 lag die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bei 13 %, dazu kamen Tausende Menschen, die nicht in die Statistik kamen durch Umschulungen etc. Erst in den letz­ten Jahren sank die Arbeitslosigkeit auch im Osten unter 10 %. Doch wer sich 25 Jahre sei­nes Lebens mit schlecht bezahl­ten Kurzzeitjobs und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Wasser gehal­ten hat, sieht Ausländer als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Viele Ostdeutsche sind zum Arbeiten in den Westen gepen­delt, haben viel Freizeit mit der Fahrerei ver­bracht und ken­nen kei­nen Westdeutschen, der es umge­kehrt getan hat. Viele sind daher über­zeugt, dass sie alles gege­ben haben und füh­len, dass sie trotz­dem kaum etwas erreicht haben. Mir ist dies­be­züg­lich eine Szene im Kopf geblie­ben: Der Eintritt in den Schlosspark Pillnitz kos­tet nur 3 €. In der Schlange am Eintritt stan­den auch Flüchtlinge. Damit denen im Wohnheim nicht die Decke auf den Kopf fällt, sie aber kein Geld haben, durf­ten sie umsonst in den Park. An sich eine ver­nünf­tige Entscheidung, eine Rentnerin in der Schlange hat sich jedoch fürch­ter­lich dar­über auf­ge­regt: Sie hat ihr gan­zes Laben lang gear­bei­tet, kommt aber mit ihrer Rente gerade so über die Runden. Der Park ist aber nur so schön, weil er mit ihren Steuern instand gehal­ten wurde, ja zu DDR-Zeiten hat sie sogar unent­gelt­li­che Arbeitseinsätze im Park gemacht und nun muss sie für den Eintritt bezah­len, wäh­rend Fremde, die nie Steuern gezahlt haben, umsonst rein­kom­men.
Der Vorfall ist ein gutes Beispiel für das Gefühl, das viele im Osten haben. Dadurch, dass sie trotz Arbeit das Gefühl haben, nicht voll teil­ha­ben zu kön­nen, macht sie anfäl­lig für Angst und Neid gegen­über denen, die neu kom­men. Generell ist man­gelnde Teilhabe ein gro­ßes Problem, natür­lich auch in Westdeutschland.

Teile mei­ner Heimat wur­den abge­ris­sen

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Punkt ist Heimat. Nach der Wende haben viele Menschen den Osten ver­las­sen. Dadurch stan­den ganze Wohngebiete leer. Die meis­ten ost­deut­schen Gemeinden haben mehr als ein Fünftel ihrer Einwohner ver­lo­ren. Und so wurde auch das Wohngebiet abge­ris­sen, in dem ich zur Schule gegan­gen bin und wo meine gan­zen Freunde gewohnt haben. Dafür kann die Politik nicht viel, den­noch ist es wich­tig zu ver­ste­hen, dass das Gefühle aus­löst, im Vergleich zum Rest Deutschlands abge­hängt zu sein.

Man hat zur Wende das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ ange­wen­det. Alteigentümer beka­men ihren ehe­ma­li­gen Besitz zurück, der in der DDR ent­eig­net wurde. Dies waren meist Leute aus dem Westen, die durch ihre Enteignung aus dem Osten geflo­hen sind. Das Prinzip wurde bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung von den Siegermächten abge­seg­net und noch vor der Wiedervereinigung von der Volkskammer per Gesetz beschlos­sen. Insofern ist nicht klar ob die Siegermächte ande­ren Regelungen zuge­stimmt hät­ten, z.B. dass man den DDR-Bewohnern die von ihnen bewohn­ten Gebäude und die Betriebe, in denen sie bis­her gear­bei­tet haben, über­tra­gen hätte. Denn wer in der Heimat Besitz und einen Job hat, ver­lässt sie nicht. Sicher wären den­noch auch mit die­ser Methode der Übertragung an die Bewohner/Arbeiter viele Firmen pleite gegan­gen oder Häuser ver­kauft wor­den, doch dann hätte man die Startbedingungen für das Monopoly der Marktwirtschaft wenigs­ten etwas ange­gli­chen.

Apropos Marktwirtschaft, Westdeutsche kön­nen es sich nicht vor­stel­len, wie es ist, quasi über Nacht ein neues Wirtschaftssystem zu haben. Man kann es sich so vor­stel­len, dass sich auf ein­mal kei­ner in der Welt ein deut­sches Auto leis­ten kann, Daimler, VW und Co. abge­wi­ckelt wer­den müss­ten, Hunderttausende auf der Straße ste­hen und sich einen neuen Job suchen müs­sen, obwohl sie jeden Tag für ihre Firmen hart gear­bei­tet haben. Und dann wür­den ihnen auch noch andere sagen, dass es nur daran läge, weil sie vor­her schlecht gear­bei­tet hät­ten. Man muss sich klar machen, dass die Arbeiter der DDR nichts für die staat­lich ver­ord­nete Mangelwirtschaft konn­ten, statt­des­sen unter Murren und Unterdrückung ihrer Ideen ver­sucht haben, trotz Mangel eini­ger­ma­ßen qua­li­ta­tive Produkte her­zu­stel­len.
Dazu kommt, dass im Sozialismus mehr Miteinander als Gegeneinander war, sprich, wer etwas geleis­tet hat, stellte eine Rechnung und die wurde auch bezahlt. Dass man Rechnungen erst ein­mah­nen oder gar ein­kla­gen muss, muss­ten viele ost­deut­sche Neuunternehmer bit­ter ler­nen.

Das Miteinander ist ein wei­te­rer wich­ti­ger Punkt. Es gab Arbeitskollektive, in denen man sich gegen­sei­tig auch im Privaten gehol­fen hat. Es wurde mit den Abteilungen Ausflüge gemacht, Kinder in Ferienlagern der Betriebe im Sommer betreut, es gab aus­rei­chend Kindergartenplätze und viele andere Dinge, die es heute so nicht mehr gibt. Es war für Viele eine große Umstellung, dass man sich um alle Dinge sel­ber küm­mern muss, also z.B. die Schule nicht mehr dafür sorgt, dass alle Schulbücher da sind, son­dern dass man Schulbücher aus­wäh­len, Angebote für Ferienlager suchen und Preise ver­glei­chen muss. Die ehe­ma­lige Lehrerin am Ende die­ser Reportage bringt das gut auf den Punkt.

Und nun, was ist die Schlussfolgerung? Es gibt sicher kein Patentrezept. Es ist auf jeden Fall sehr wich­tig die Löhne und Renten schnellst­mög­lich anzu­glei­chen. Bei der Rente ist das bereits auf den Weg gebracht, bei den Löhnen lei­der nicht. Es ist ein Unding, dass wir über­all einen Pflegenotstand haben, aber man dafür in Rostock bei glei­cher Leistung weni­ger ver­dient als in Lübeck. Dort kann und muss die Politik ein­grei­fen, wenn sie von den Menschen ernst genom­men wer­den will. Aus gutem Grund wur­den z.B. Frauenquoten ein­ge­führt und man hat das Recht zu schauen, dass man als Frau genauso viel ver­dient wie ein Mann bei glei­cher Leistung. Das ist eine Selbstverständlichkeit und was wir für Geschlechter als fair oder unfair emp­fin­den, muss gene­rell auch für Regionen gel­ten. Es würde kein Porsche-Mitarbeiter in Zuffenhausen akzep­tie­ren, weni­ger zu bekom­men als sein Kollege im Leipziger Werk. Um das über­prü­fen zu kön­nen, sollte die Politik neue Arbeitnehmerrechte schaf­fen. Diese soll­ten nicht für Ost/West son­dern zum Vergleich zwi­schen allen Werken einer Firma gel­ten.
Dass die meis­ten Führungspositionen in Ostdeutschland nicht von Ostdeutschen besetzt sind, ist eben­falls ein Problem, dass man ange­hen muss, denn Gesellschaft funk­tio­niert nur, wenn Amtsleiter und Vorstände die Probleme der Bevölkerung ken­nen, weil sie darin auf­ge­wach­sen sind. Da die Situation so extrem ist, kommt man dem wahr­schein­lich nur mit zeit­lich befris­te­ten Quotenregelungen für Ostdeutsche bei.

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