Als Ex-Ossi werde ich oft damit konfrontiert, was denn in meiner alten Heimat los ist. Mir fällt dabei auf, dass die meisten Medien nicht vermitteln, warum die Ansichten und Denkweisen im Osten anders sind. Das kommt auch daher, dass es in den Chefredaktionen kaum Ostdeutsche gibt und dass auch in in Ostdeutschland selbst die überwältigende Zahl der Chefs, Richter, Generäle etc. aus dem Westen stammen.
Da es ein längerer Artikel ist, empfiehlt sich etwas Musik zum Lesen: Moderat – A new error
Um die Gefühle von vielen Ostdeutschen verstehen, gehen wir zurück in das Jahr 1990: Die Wende ist da, die Chance der Tristesse in maroden Großbetrieben zu entgehen, nicht mehr wochenlang per Tauschhandel Waren hinterherzurennen, die es ohne Westgeld nicht gab. Die Wende machte Hoffnung, dass man es nun mit harter Arbeit auch endlich zu etwas bringen, in einem schönen Haus wohnen und die Welt bereisen kann. Man konnte nun auch selbst ein Unternehmen gründen, etwas bewegen.
Das Problem daran waren die Startbedingungen. Stellen Sie sich vor, die spielen Monopoly mit 5 anderen. Alle anderen haben dasselbe Startgeld, sie aber nur ein Fünftel davon. Wer wird gewinnen und wer zuerst ausscheiden? Probieren Sie es am besten einmal aus, denn das prägt!
Übersetzt auf 1990 heißt das, 20% der Deutschen hatten so gut wie kein Startkapital. Am Ende der DDR lag das durchschnittliche Arbeitseinkommen bei 1140 Mark (der DDR). Nimmt man an, dass man etwa ein Drittel davon monatlich ansparen konnte, wären das 380 Mark, also in 10 Jahren 45.600 Mark. Bei der Währungsunion 1990 konnte man das 2:1 in Westmark tauschen, 4000 Mark sogar 1:1 (Details dazu siehe hier). Das heißt, das über 10 Jahre angesparte Geld war 24.800 Westmark wert. Immobilieneigentum gab es in der DDR systembedingt nur sehr selten, daher war das angesparte Geld auch meist das Vermögen.
Seit 1990 haben sich die Kaufpreise für Wohnungen in etwa verdoppelt. Heute kostet z.B. eine Wohnung in Dresden um die 120.000 €. Man kann also abschätzen, dass der Kaufpreis 1990 um die 60.000 €, also 120.000 Westmark gelegen hat. Dazu kommt, dass jede Wohnung erst einmal saniert werden musste. Das angesparte Geld reichte also nicht aus, um eine Wohnung, geschweige denn ein ganzes Haus zu kaufen. Dazu hätte man einen Kredit aufnehmen müssen. Doch ohne Sicherheiten, gibt es keinen Kredit und das Gehalt wurde kaum als Sicherheit akzeptiert, denn durch die Abwicklung der Betriebe wurden die allermeisten Menschen arbeitslos. Viele haben die 1990er Jahre mit Umschulungen, Arbeitslosigkeit und kurzzeitigen Beschäftigungen verbracht. Es konnten sich also nur Leute aus dem Westen und Westeuropa Häuser in Ostdeutschland kaufen, denn diese hatten entweder bereits das nötige Kapitel oder Sicherheiten für Kredite. So gehören die meisten Mietwohnungen in Ostdeutschland Menschen, die nicht vor Ort wohnen.
Viele Leute im Osten haben realisiert, dass sie es nicht aus eigener Kraft schaffen können, Wohneigentum zu erwerben, denn der Markt wird von Menschen aus dem Westen befeuert, die ihr Geld anlegen wollen. Die Kaufpreise steigen daher auch in Ostdeutschland rasant, während ein Drittel der Ostdeutschen weniger als 2000 € im Monat brutto verdienen. Als Daumenregel gilt, dass man eine Wohnung nur kaufen sollte, wenn man sie in 25 Jahren abbezahlen kann. Das hieße bei 120.000 € Kaufpreis, 25 Jahre lang jeden Monat 400 € zur Seite legen. Das können die Meisten nicht.
Wichtig für das Gefühl sind auch die vergangenen Jahre. Als 2016 der Mindestlohn eingeführt wurde, hat z.B. in Sachsen fast jeder vierte Arbeitnehmer weniger als 8,50 €/Stunde verdient. Das heißt, dass viele Menschen in den Jahren seit der Wiedervereinigung kaum etwas ansparen konnten. Dazu kommt das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Sicherlich waren viele DDR-Betriebe nicht auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig, doch die, die es waren, wurden als Konkurrenz wahrgenommen, teilweise aufgekauft und zerschlagen oder hatten einfach nicht das Startkapital, um am Markt zu bestehen. Hier zwei Beispiele: Keramikfabrik, Kühlschränke.
Dazu kommt die Psychologie, denn jeder Mensch braucht Bestätigung, dass er etwas Sinnvolles macht. In der DDR hatten z.B. hunderttausende Menschen im Bergbau gearbeitet. Deren Arbeitsleistung wurde nicht honoriert. Bergarbeiter waren die Sündenböcke für zerstörte Landschaften und sie wurden kaum unterstützt, in anderen Bereichen eine neuen Job zu finden. In Westdeutschland gab es hingegen Sozialpläne über teils Jahrzehnte, der Ausstieg aus dem Untertage-Bergbau wurde langsam und geplant vollzogen. Dass Ostdeutsche Bergarbeiter nicht dieselbe Unterstützung bekamen und bis heute Nachteile haben, löst Wut aus.
Noch 2009 lag die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bei 13 %, dazu kamen Tausende Menschen, die nicht in die Statistik kamen durch Umschulungen etc. Erst in den letzten Jahren sank die Arbeitslosigkeit auch im Osten unter 10 %. Doch wer sich 25 Jahre seines Lebens mit schlecht bezahlten Kurzzeitjobs und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Wasser gehalten hat, sieht Ausländer als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Viele Ostdeutsche sind zum Arbeiten in den Westen gependelt, haben viel Freizeit mit der Fahrerei verbracht und kennen keinen Westdeutschen, der es umgekehrt getan hat. Viele sind daher überzeugt, dass sie alles gegeben haben und fühlen, dass sie trotzdem kaum etwas erreicht haben. Mir ist diesbezüglich eine Szene im Kopf geblieben: Der Eintritt in den Schlosspark Pillnitz kostet nur 3 €. In der Schlange am Eintritt standen auch Flüchtlinge. Damit denen im Wohnheim nicht die Decke auf den Kopf fällt, sie aber kein Geld haben, durften sie umsonst in den Park. An sich eine vernünftige Entscheidung, eine Rentnerin in der Schlange hat sich jedoch fürchterlich darüber aufgeregt: Sie hat ihr ganzes Laben lang gearbeitet, kommt aber mit ihrer Rente gerade so über die Runden. Der Park ist aber nur so schön, weil er mit ihren Steuern instand gehalten wurde, ja zu DDR-Zeiten hat sie sogar unentgeltliche Arbeitseinsätze im Park gemacht und nun muss sie für den Eintritt bezahlen, während Fremde, die nie Steuern gezahlt haben, umsonst reinkommen.
Der Vorfall ist ein gutes Beispiel für das Gefühl, das viele im Osten haben. Dadurch, dass sie trotz Arbeit das Gefühl haben, nicht voll teilhaben zu können, macht sie anfällig für Angst und Neid gegenüber denen, die neu kommen. Generell ist mangelnde Teilhabe ein großes Problem, natürlich auch in Westdeutschland.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist Heimat. Nach der Wende haben viele Menschen den Osten verlassen. Dadurch standen ganze Wohngebiete leer. Die meisten ostdeutschen Gemeinden haben mehr als ein Fünftel ihrer Einwohner verloren. Und so wurde auch das Wohngebiet abgerissen, in dem ich zur Schule gegangen bin und wo meine ganzen Freunde gewohnt haben. Dafür kann die Politik nicht viel, dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass das Gefühle auslöst, im Vergleich zum Rest Deutschlands abgehängt zu sein.
Man hat zur Wende das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ angewendet. Alteigentümer bekamen ihren ehemaligen Besitz zurück, der in der DDR enteignet wurde. Dies waren meist Leute aus dem Westen, die durch ihre Enteignung aus dem Osten geflohen sind. Das Prinzip wurde bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung von den Siegermächten abgesegnet und noch vor der Wiedervereinigung von der Volkskammer per Gesetz beschlossen. Insofern ist nicht klar ob die Siegermächte anderen Regelungen zugestimmt hätten, z.B. dass man den DDR-Bewohnern die von ihnen bewohnten Gebäude und die Betriebe, in denen sie bisher gearbeitet haben, übertragen hätte. Denn wer in der Heimat Besitz und einen Job hat, verlässt sie nicht. Sicher wären dennoch auch mit dieser Methode der Übertragung an die Bewohner/Arbeiter viele Firmen pleite gegangen oder Häuser verkauft worden, doch dann hätte man die Startbedingungen für das Monopoly der Marktwirtschaft wenigsten etwas angeglichen.
Apropos Marktwirtschaft, Westdeutsche können es sich nicht vorstellen, wie es ist, quasi über Nacht ein neues Wirtschaftssystem zu haben. Man kann es sich so vorstellen, dass sich auf einmal keiner in der Welt ein deutsches Auto leisten kann, Daimler, VW und Co. abgewickelt werden müssten, Hunderttausende auf der Straße stehen und sich einen neuen Job suchen müssen, obwohl sie jeden Tag für ihre Firmen hart gearbeitet haben. Und dann würden ihnen auch noch andere sagen, dass es nur daran läge, weil sie vorher schlecht gearbeitet hätten. Man muss sich klar machen, dass die Arbeiter der DDR nichts für die staatlich verordnete Mangelwirtschaft konnten, stattdessen unter Murren und Unterdrückung ihrer Ideen versucht haben, trotz Mangel einigermaßen qualitative Produkte herzustellen.
Dazu kommt, dass im Sozialismus mehr Miteinander als Gegeneinander war, sprich, wer etwas geleistet hat, stellte eine Rechnung und die wurde auch bezahlt. Dass man Rechnungen erst einmahnen oder gar einklagen muss, mussten viele ostdeutsche Neuunternehmer bitter lernen.
Das Miteinander ist ein weiterer wichtiger Punkt. Es gab Arbeitskollektive, in denen man sich gegenseitig auch im Privaten geholfen hat. Es wurde mit den Abteilungen Ausflüge gemacht, Kinder in Ferienlagern der Betriebe im Sommer betreut, es gab ausreichend Kindergartenplätze und viele andere Dinge, die es heute so nicht mehr gibt. Es war für Viele eine große Umstellung, dass man sich um alle Dinge selber kümmern muss, also z.B. die Schule nicht mehr dafür sorgt, dass alle Schulbücher da sind, sondern dass man Schulbücher auswählen, Angebote für Ferienlager suchen und Preise vergleichen muss. Die ehemalige Lehrerin am Ende dieser Reportage bringt das gut auf den Punkt.
Und nun, was ist die Schlussfolgerung? Es gibt sicher kein Patentrezept. Es ist auf jeden Fall sehr wichtig die Löhne und Renten schnellstmöglich anzugleichen. Bei der Rente ist das bereits auf den Weg gebracht, bei den Löhnen leider nicht. Es ist ein Unding, dass wir überall einen Pflegenotstand haben, aber man dafür in Rostock bei gleicher Leistung weniger verdient als in Lübeck. Dort kann und muss die Politik eingreifen, wenn sie von den Menschen ernst genommen werden will. Aus gutem Grund wurden z.B. Frauenquoten eingeführt und man hat das Recht zu schauen, dass man als Frau genauso viel verdient wie ein Mann bei gleicher Leistung. Das ist eine Selbstverständlichkeit und was wir für Geschlechter als fair oder unfair empfinden, muss generell auch für Regionen gelten. Es würde kein Porsche-Mitarbeiter in Zuffenhausen akzeptieren, weniger zu bekommen als sein Kollege im Leipziger Werk. Um das überprüfen zu können, sollte die Politik neue Arbeitnehmerrechte schaffen. Diese sollten nicht für Ost/West sondern zum Vergleich zwischen allen Werken einer Firma gelten.
Dass die meisten Führungspositionen in Ostdeutschland nicht von Ostdeutschen besetzt sind, ist ebenfalls ein Problem, dass man angehen muss, denn Gesellschaft funktioniert nur, wenn Amtsleiter und Vorstände die Probleme der Bevölkerung kennen, weil sie darin aufgewachsen sind. Da die Situation so extrem ist, kommt man dem wahrscheinlich nur mit zeitlich befristeten Quotenregelungen für Ostdeutsche bei.