Warum gedenken wir heute noch den Opfern des Nationalsozialismus?
Im nationalsozialistischen Vernichtungslager Treblinka nordöstlich von Warschau wurden zwischen Juli 1942 und Ende 1943 etwa 780.000 Menschen vernichtet, das heißt sie wurden direkt nach ihrer Ankunft erschossen und ihre Körper verscharrt bzw. um den Massenmord effizienter zu gestalten, in späteren Jahren vergast und verbrannt. Wassili Grossmann, der als begleitender Journalist der sowjetischen Roten Armee bei der Auffindung des Lagers dabei war, brachte das Bild der Verbrennung der Menschen in ergreifenden Worten zu Papier:
„Die vor Entsetzen in Wahnsinn verfallenden Mütter mußten ihre Kinder an die glühenden Ofenroste führen, auf denen sich Tausende tote Körper in Flammen und Rauch krümmten, auf denen die Leichen sich bäumten und verkrampften, als lebten sie wieder auf, den schwangeren toten Frauen von der Hitze der Leib geplatzt war und die vor ihrer Geburt gemordeten Kinder im aufgerissenen Mutterleib brannten. (…)
Es ist unendlich schwer, davon auch nur zu lesen. Möge der Leser nur glauben – es ist nicht weniger schwer, darüber zu schreiben. Vielleicht fragt sich irgendwer: ‚Wozu schreibt, wozu erinnert man an all das?‘“
Grossmann stellte sich die Frage nach dem Sinn der Erinnerung bereits kurz nach den Geschehnissen, als er diese Zeilen 1944 veröffentlichte. Die Nazis hatten ihre eigenen Ziele und machten sich nach dem Aufstand im Lager am 2. August 1943 schnell daran, die Spuren des Vernichtungslagers so gut wie möglich zu verwischen.
Auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers ist heute daher nicht mehr viel aus der Zeit des Massenmordes zu sehen. Im Gegensatz zum Konzentrationslager Auschwitz, das zum Symbol des Holocausts geworden ist, gab es in Treblinka zur Hochzeit der Morde kein Arbeitslager, die Deportierten – allein 323.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto – wurden in Waggons an den Bahnhof Treblinka gebracht. Ihnen wurde vorgespielt, es handle sich um ein Durchgangslager, um mögliche Fluchtabsichten vor dem sicheren Tod zu untergraben. Die auf die Ankunft einsetzende Vernichtungsmaschinerie war entsetzlich effizient. Eineinhalb Stunden nach Ankunft im Lager waren in der Regel alle neu Angekommen bereits ermordet. Das ist auch der Grund, warum es kaum Berichte über dieses Lager gibt und ihm nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Wer nach Treblinka gebracht wurde, kam nicht wieder raus. Nur wenige überlebten den Aufstand im Lager im August 1943 und konnten aus der „Hölle von Treblinka“ (so Grossmann) fliehen.
Nur wenige Namen der Ermordeten sind heute bekannt, etwa Janusz Korczak, Kinderarzt und Leiter eines Waisenhauses, der aus freien Stücken die Kinder seines Waisenhauses in das Vernichtungslager begleitete und dort mit ihnen in den Tod ging. Die meisten der Hunderttausenden Ermordeten aber wurden ihrer Geschichte, ihrer Erinnerung beraubt. Ihre Namen wurden von den Nazis getilgt.
Heute gibt es am Eingang zur Gedenkstätte ein kleines, aber eindrückliches Museum, große Steine zeigen die Lagergrenzen auf, am eigentlichen ehemaligen Areal des Vernichtungslagers befindet sich ein Denkmal in Erinnerung an alle Menschen, die dort ermordet wurden. Viele Steine gedenken derer, die namenlos geblieben sind und denen die Nazis versucht haben ihre Erinnerung und Menschlichkeit zu rauben. Dieses Denkmal ist umrandet von einem dicken, ruhigen und friedlichen Wald, der einen von der Außenwelt komplett abgrenzt und eine Ruhe hervorruft, die selten zu finden ist. Wenn man dort steht, eingekreist von den Steinen, die für die Menschen stehen, die dort ihr Leben lassen mussten, kann man sich kaum vorstellen, welche Rufe, welches Leid, welche Gebete, welche Schreie, Wünsche und Schicksale er damals verschluckte und den Weg nach draußen verdrängte.
Auch wenn wir all diese Gebete und das Grauen nicht nachvollziehen können, gar voll begreifen können, dürfen wir uns davon nicht abwenden, im Gegenteil. Wassili Grossmann schreibt als Antwort auf die von ihm aufgeworfene Frage, warum man der Geschehnisse erinnern sollte: „Von der furchtbaren Wahrheit zu berichten, ist die Pflicht eines Schriftstellers, und die Bürgerpflicht des Lesers ist es, sie zu erfahren. Jeder, der sich abwendet, die Augen schließt und vorbeigeht, verletzt das Andenken der Gemordeten.“
Dieser Satz hat bis heute Gültigkeit. Auch wenn es durch den Verlust der Augenzeugen der Ereignisse schwieriger wird, ihrer zu gedenken – sie treten aus der erlebten Erinnerung in die Geschichte ein – müssen wir uns als Bürgerinnen und Bürger des Nachfolgestaats nur die Geschichte der Bundesrepublik ins Gedächtnis rufen, um die Gültigkeit von Grossmanns Worten unterschreiben zu können. Grossmanns Entsetzen über die industrielle Ermordung im Vernichtungslager spricht aus jeder Zeile seines Berichts „Die Hölle von Treblinka“. Aus ihnen lässt sich die völlige Entfernung des nationalsozialistischen Deutschlands von jeglicher Menschlichkeit lesen. Deutschland war moralisch bankrott.
Nur durch die westlichen Alliierten gelang es aus dem Trümmerhaufen von Städten und Menschen einen neuen und demokratischen Staat aufzubauen. Die daraus entstehende Bundesrepublik war eine solche Erfolgsgeschichte, dass vielen Menschen in Deutschland heute nicht bewusst zu sein scheint, auf welchen Trümmern der Vergangenheit die Bundesrepublik, die gerade ihren 75. Geburtstag feierte, gebaut wurde. Grundlage waren völlig zerstörte Städte und die geistigen Ruinen des Dritten Reiches, dessen Gedankengut noch immer in vielen Köpfen der Deutschen steckte. Der Nationalsozialismus, die Ermordung von 6 Millionen Juden, der zweite Weltkrieg, den allein Deutschland zu verantworten hatte, sind das Schreckensbild, als dessen Gegenentwurf die Bundesrepublik gegründet wurde.
Zweifellos war diese Sicht durch die Politik der Alliierten nicht direkt in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung gepflanzt worden und konnte dort von Anfang an widerstandslos gedeihen. Erst Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoah, als viele der Täter und Mitläufer bereits verstorben waren, entwickelte sich die deutsche Erinnerungskultur. Allgemein wird der 8. Mai 1985 als ein Wendepunkt der Erinnerungskultur markiert, an dem der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede, damals im Bundestag in Bonn, sprach: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten, sollte nicht mehr als Tag der Niederlage, sondern als Tag der Befreiung gesehen werden.
Darum, um dem Vergessen und Verdrängen der Menschen entgegenzuwirken, um zu zeigen, wie fehlgeleitet alle Relativierungen des Nationalsozialismus und der Shoah sind, um den Menschen, die in Treblinka und anderen Vernichtungslagern, Arbeitslagern, belagerten Städten oder im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben verloren Erinnerung und Würde aufrechtzuerhalten, gedenken wir heute noch der Gräueltaten der Nationalsozialisten und vor allem: der Menschen, die die Schreckensherrschaft nicht überlebt haben.
Text: Franziska Ehmer
Bilder: Xaver Ehmer-Kretzschmar
„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“
SPD-Landesvorsitzender Andreas Stock und der Stühlinger SPD-Vorsitzende Joshua Lorenz gedachten der Opfer des deutschen Fliegerangriffs vom 10. Mai 1940 auf den Stühlinger
Mit Niederlegung eines Blumengebindes auf dem Gedenkstein des Hildaspielplatzes gedachten Andreas Stoch, Oppositionsführer im baden-württembergischen Landtag, und Joshua Lorenz, Ortsvereinsvorsitzende der Stühlinger SPD, der Opfer des irrtümlichen deutschen Fliegerangriffes am 10. Mai 1940 auf den Stühlinger. Stoch hob in seiner Gedenkansprache hervor, dass derjenige, der sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, dazu verdammt ist, sie zu wiederholen. Er, Joshua Lorenz und Marie Battran-Berger vom Friedensforum Freiburg stellten Bezüge des damaligen Ereignisses zum Ukrainekrieg und der kriegerischen Auseinandersetzung im Gazastreifen her.