Demokratie wagen — oder die Leiden und Freuden als SPD-Mitglied

von Uwe Stöhr, erschie­nen im Stüh­lin­ger Maga­zin 4–2017

Zum ers­ten Mal in der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik ist 2 Mona­te nach einer Wahl nicht abzu­se­hen, wer, wie Deutsch­land regie­ren wird. Nach­dem klar ist, dass es kei­ne Jamai­ka-Koali­ti­on gibt, steht die SPD im Mit­tel­punkt. Als Par­tei­mit­glied ist man Ansprech­part­ner für Freun­de und Bekann­te und so wer­de ich der­zeit oft gefragt, was die SPD nun machen wird. Dass ich das nicht weiß, ist für vie­le über­ra­schend und oft höre ich “War­um bist du denn da Mit­glied, wenn du das nicht weißt?”

War­um bin ich Mit­glied und soll ich es blei­ben? Die­se Fra­ge stel­le ich mir regel­mä­ßig. Ich beschäf­ti­ge mich ger­ne mit Poli­tik und möch­te mit­ge­stal­ten. Auf die Arbeit ande­rer Leu­te schimp­fen, ohne selbst Vor­schlä­ge zu machen, bringt nichts vor­an. Also bin ich einer Par­tei bei­getre­ten. Das Mit­ge­stal­ten hat aller­dings auch Gren­zen. So habe ich auf vie­le Din­ge kei­nen Ein­fluss und muss Ent­schei­dun­gen, die der Par­tei­vor­stand in geschlos­se­ner Run­de trifft, akzep­tie­ren. Dass Mar­tin Schulz Kanz­ler­kan­di­dat und auch gleich noch Par­tei­vor­sit­zen­der wird, habe ich, wie Sie auch, erst aus der Zei­tung erfah­ren. Ich hat­te das Gefühl, dass vie­le Leu­te kei­ne Gro­ße Koali­ti­on (Gro­Ko) mehr woll­ten. Ich per­sön­lich hät­te mir daher schon vor dem Wahl­kampf gewünscht, dass die SPD sagt, dass sie nicht mehr für eine Gro­Ko zur Ver­fü­gung steht, für ande­re Koali­tio­nen aber schon. Wenn man Wahl­kampf macht, und sich ein ums ande­re Mal bestä­tigt fühlt, dass die Stim­mung in der Tat stark gegen eine Gro­Ko ist, kann man manch­mal ver­zwei­feln war­um die Par­tei­füh­rung den Wahl­kampf so führt. Ich muss also mit Ent­schei­dun­gen leben, die ich nicht mit beein­flus­sen kann, für die ich aber in Gesprä­chen Rede und Ant­wort ste­hen muss. Das kann sehr anstren­gend sein und ist das Leid eines SPD-Mitglieds.

Als Mar­tin Schulz am Wahl­abend eine Gro­Ko aus­schloss, fand ich die Aus­sa­ge in Ord­nung, aber auch auf die­se Ent­schei­dung hat­te ich kei­nen Ein­fluss. Es ist klar, dass man man­che Din­ge nicht ein paar Wochen in der Par­tei dis­ku­tie­ren kann, son­dern sie ein­fach ent­schei­den muss. Durch die­se Ent­schei­dung muss­ten die Jamai­ka­ner Far­be beken­nen und son­die­ren ob und wie sie zusam­men regie­ren. Sie haben gezeigt, dass sie es ent­we­der nicht wol­len oder nicht kön­nen. Das ist schwach, denn als Wäh­ler erwar­te ich von den Par­tei­en, dass sie unse­re Wahl­ent­schei­dung akzep­tie­ren und das Land dem­entspre­chend regie­ren. Die Fra­ge ist nun, ob wir als SPD nicht doch eine Gro­Ko mit­tra­gen oder eine Min­der­heits­re­gie­rung. Gehen wir nicht in eine Gro­Ko, blei­ben wir der Aus­sa­ge vom Wahl­abend treu, stel­len uns aber nicht der Ver­ant­wor­tung. Gibt es Neu­wah­len, wird man uns fra­gen, war­um wir geknif­fen haben. Als Par­tei sind wir dazu da, die Inter­es­sen unse­rer Wäh­ler zu ver­tre­ten. In der Oppo­si­ti­on kön­nen wir das nur sehr begrenzt über den Bun­des­rat. Also sol­len wir viel­leicht doch bes­ser mit­re­gie­ren? Das Schö­ne ist, dass ich dazu mit­dis­ku­tie­ren und schluss­end­lich auch per Urwahl abstim­men kann. Ich habe  es also mit in der Hand, was poli­tisch pas­siert. Das sind die Freu­den eines SPD-Mit­glieds und das geht soweit, dass ich hier über mei­ne Mei­nung schrei­ben darf. Und die ist:

Als Sozi­al­de­mo­krat bin ich über­zeugt von unse­ren The­men, die man gut zusam­men­ge­fasst fin­det, wenn man nach “SPD Wahl­pro­gramm 2017” goo­gelt. Ich will die Kran­ken­ver­si­che­rung für alle (als “Bür­ger­ver­si­che­rung” bekannt). Ich will eine Steu­er auf rei­ne Finanz­ge­schäf­te (Finanz­trans­ak­ti­ons­steu­er), weil die­se immer weni­ger mit rea­len Waren zu tun haben. Ich will, dass Zeit- und Leih­ar­beit genau­so bezahlt wer­den, wie regu­lä­re Stel­len. Ich habe noch vie­le wei­te­re Punk­te auf mei­ner Wunsch­lis­te und die Fra­ge ist, war­um, wir das nicht schon eher umge­setzt haben. Poli­tik ist immer auch das Fin­den von Kom­pro­mis­sen. Schließ­lich ver­tritt kei­ne Par­tei allein die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Das hat nichts damit zu tun, sei­ne Wahl­ver­spre­chen zu bre­chen. Die Punk­te eines Wahl­pro­gramms sind Zie­le und in einer Koali­ti­on muss jede Par­tei eini­ge ihrer Zie­le zurück­stel­len. Das heißt aber nicht, dass sie sie aus den Augen ver­liert. Was wir in den letz­ten 4 Jah­ren nicht umset­zen konn­ten, haben wir wei­ter­hin auf der Agen­da. Wir wur­den dafür gewählt, die­se umzu­set­zen. In der ver­gan­ge­nen Gro­Ko waren der Groß­teil der Neue­run­gen unse­re Ideen. Oder fällt Ihnen spon­tan ein The­ma ein, das von der CDU kam und Ihnen per­sön­lich hilft? Aha, offen­sicht­lich sind wir ganz gut dar­in, unse­re Punk­te umzu­set­zen, die Ihnen hel­fen. Wo wir schwach sind, ist das Mar­ke­ting, dass es UNSERE Ideen waren, dass WIR es umge­setzt haben und dass WIR noch viel wei­ter gehen wer­den, wenn wir kön­nen. Es hat uns vie­le Stim­men gekos­tet, dass vie­le Wäh­ler nicht wuss­ten, dass es die SPD braucht, wenn es um Pro­ble­me geht, die sie jeden Monat spü­ren: Star­ke Miet­stei­ge­run­gen, sin­ken­de Ren­ten, ver­mehrt Jobs mit schlech­ter Bezah­lung usw. Dafür haben wir Lösun­gen parat, die wir nur noch nicht umset­zen konn­ten. Wenn die CDU wei­ter regie­ren will, muss sie auf uns zuge­hen. Denn die CDU weiß, dass die SPD-Mit­glie­der einer Gro­Ko als auch einer Min­der­heits­re­gie­rung zustim­men müs­sen. Ich wer­de natür­lich nicht zustim­men, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass wir vie­le unse­rer The­men umset­zen können.

Wir sind also in einer guten Ver­hand­lungs­po­si­ti­on. Wir müs­sen in Zukunft dem Wäh­ler aber viel bes­ser klar machen, wel­che Punk­te und Inhal­te von uns kom­men und war­um unse­re Zie­le für jeden Ein­zel­nen gut sind. Im End­ef­fekt spricht nichts gegen eine Mit­ar­beit. Es muss jedoch kei­ne Gro­Ko sein; eine Min­der­heits­re­gie­rung, die wir tole­rie­ren, sehe ich als gro­ße Chan­ce. Das ist für alle Par­tei­en Neu­land und könn­te die Poli­tik beflü­geln. Ich mei­ne, wodurch kommt das Gefühl vie­ler Leu­te, dass sie kei­ne Gro­Ko mehr wol­len? Weil im End­ef­fekt alles in klei­nen Krei­sen vor­ab ent­schie­den wur­de und im Bun­des­tag gefühlt nur noch die Stimm­kar­ten gezo­gen wur­den. Bei einer Min­der­heits­re­gie­rung muss man für jedes The­ma neue Mehr­hei­ten suchen. Es wird also zwangs­läu­fig mehr und inten­si­ve­re Dis­kus­sio­nen geben. Die Par­tei­en kön­nen bei ein­zel­nen Punk­ten ande­rer Par­tei­en auch ein­mal zustim­men, ohne ihr Gesicht zu ver­lie­ren. Denn sind wir ehr­lich, wenn es einen objek­tiv guten Gesetz­ent­wurf der Oppo­si­ti­on gab, hat man prin­zi­pi­ell erst ein­mal dage­gen gestimmt. Die­se Men­ta­li­tät soll­te sich ändern und eine Min­der­heits­re­gie­rung wür­de hel­fen, das zu tun. Oder, um es mit Wil­ly Brandt zu sagen, “Mehr Demo­kra­tie wagen!”