Wahrscheinlich haben Sie sich auch schon über Müll auf den Straßen aufgeregt, über hohe Müllgebühren oder fehlende Mülleimer. Doch ist die Aufregung gerechtfertigt, was sind die Gründe für den Müll auf Straßen und wie funktioniert die Müllabfuhr eigentlich? Um diese Fragen zu beantworten hat das Stühlinger Magazin recherchiert und sich mit Herrn Broglin, dem Geschäftsführer der Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Freiburg (ASF) getroffen. Die ASF wurde 2000 gegründet und übernahm die Aufgaben der städtischen Müllabfuhr und Stadtreinigung. 53 % der ASF gehören der Stadt, der Rest dem Unternehmen Remondis. Die ASF arbeitet eigenwirtschaftlich, das heißt, jeder kann bei ihr einen Service einkaufen, nicht nur die Stadt. So holt die ASF auch Speisereste von Restaurants ab oder leert Altkleidercontainer im Auftrag von Vereinen. Die Aufstellung und Leerung der öffentlichen Mülleimer erfolgt als Auftrag der Stadt. Als der Oberbürgermeister am Seepark Mülleimer aufstellen ließ, hat die Stadt diese Dienstleistung bei der ASF eingekauft. Alle Tätigkeiten der Reinigung muss die Stadt aus ihrem Haushalt bezahlen und kann sie bei Unternehmen wie der ASF einkaufen. Wie viele und welche Mülleimer es gibt und wie oft welche Straße gefegt wird, liegt damit in der Hand des Gemeinderats, der den städtischen Haushalt beschließt.
Für die Straßenreinigung gibt es einen Reinigungsplan, der vom Garten- und Tiefbauamt erarbeitet wird. Je nach Lage einer Straße wird sie mehrmals täglich oder einmal monatlich gereinigt. Die Häufigkeit variiert zudem je nach Jahreszeit, Veranstaltungen und Baustellen. Bei der Reinigung von öffentlichen Flächen übernimmt teils das Gebäudemanagement Freiburg (GMF,) teils die ASF die Reinigung. Abb.1 zeigt den Reinigungsplan für den Stühlinger Kirchplatz. Man sieht, dass der Teil an der Schule von der GMF, der Rest von der ASF gereinigt wird. Der gepflasterte Bereich rings um die Kirchenmauer wird hingegen von der Kirchgemeinde gereinigt. Es gibt also 3 verschiedene Reinigungsgesellschaften für den Platz. Der Wind trägt weggeworfenen Müll jedoch in alle Bereiche, so dass es sinnvoll wäre, wenn die Stadt den kompletten Platz entweder der GMF oder der ASF überträgt und die Kirchgemeinde die Reinigung auch bei dieser Gesellschaft beauftragt. So könnte effektiver gereinigt werden. An vielen Stellen hat die Stadt die Mülleimer durch Edelstahlbehälter ersetzen lassen. Diese sind robust, halten auch einen Brand durch Zigaretten aus und sind speziell beschichtet, um sie von Graffiti und Aufklebern reinigen zu können. Ein Stahlbehälter kostet ca. 7 Mal so viel wie einer der orangenen Mülleimer, die an den Bushaltestellen hängen. Die Erfahrung ist, dass die orangenen Behälter zu oft zerstört werden, besonders in der Innenstadt im Sommer. Insofern rechnen sich die neuen Behälter und vor allem fliegt kein Müll mehr aus zerstörten Behältern durch die Straßen.
Während die Stadt alle Kosten der Reinigung trägt, werden mit den Müllgebühren die Kosten für die Müllabfuhr finanziert. Im bundesweiten Vergleich der Müllgebühren lag Freiburg 2016 im Mittelfeld, ca. 9% über dem Schnitt aller Großstädte. Insofern kann man nicht sagen, dass die FreiburgerInnen besonders belastet sind. Die Müllabfuhr erledigt stadtweit die ASF, dazu gehört auch der Sperrmüll. Die Müllgebühren sind auch deswegen über dem Bundesschnitt, da jeder Haushalt im Jahr 4 m³ Sperrmüll kostenfrei abholen lassen kann. In Würzburg z.B. muss man hingegen seinen Sperrmüll selbst zum Wertstoffhof bringen oder 5 €/m³ zahlen. In Freiburg genügt es, eine der Postkarten an die ASF zu schicken, die man jedes Jahr mit dem Müllkalender erhält. Obwohl das ein verschwindend geringer Aufwand ist, stellen immer mehr Leute ihren Sperrmüll auf die Straße, oft mit einem Zettel „zu verschenken“. Doch wer möchte Müll geschenkt haben? Selbst wenn ein paar Gegenstände tatsächlich von Passanten mitgenommen werden, so lädt ein Müllhaufen dazu ein, seinen Müll mit dazu zu werfen. Die Konsequenz sind immer mehr Müllhaufen in den Straßen und der Herbstwind trägt ihn in die Vorgärten. Das ist ein stadtweites Problem und betrifft die Wiehre genauso wie den Stühlinger. Jedes Sperrmüllfahrzeug der ASF ist mit mehreren Leuten besetzt. Damit diese effektiv fahren, wird gemäß den Müllpostkarten eine Route entworfen. Wilde Müllhaufen erfordern neue Routen und da die Menge nicht klar ist, ist es zudem schwer abzuschätzen, wie lange man dafür braucht. Wilde Müllhaufen können daher erst nach einigen Tagen beräumt werden. Die Mehrkosten dafür müssen alle FreiburgerInnen tragen, denn Überstunden müssen selbstverständlich bezahlt werden. So hat die Beseitigung des Müllhaufens in der Ferdinand-Weiß-Str., über den auch die BZ berichtet hatte, 2500 € gekostet. Je mehr es solche Müllhaufen gibt, umso mehr müssen die Müllgebühren erhöht werden. Das muss sich jeder klar machen, der etwas „verschenken“ möchte oder der seinen Müll dazu stellt. Wer beim Rausstellen erwischt wird, bekommt ein Ordnungswidrigkeitsverfahren und eine Rechnung der Beseitigung des Mülls.
Vom Sperrmüll abgesehen, sind wir Freiburger auf den ersten Blick vorbildlich. Wir produzierten 2016 pro Kopf 381 kg Haushaltsmüll, das sind 21 % weniger als der Bundesschnitt. Rechnet man den Elektroschrott dazu, produziert jeder Deutsche jedoch 40 % mehr Müll als z.B. ein Spanier. Europaweit Spitze sind wir hingegen mit einer Recyclingquote von 66 % und nur 1 % des Hausmülls landet auf einer Deponie. Doch ist Recycling in jedem Fall gut und was passiert genau mit unserem Müll?
Müll wird getrennt gesammelt, da er auch getrennt behandelt wird.
Müll aus den kostenpflichtigen Tonnen wird in der Müllverbrennungsanlage TREA in Eschbach verbrannt. Die dadurch entstehende Schlacke wird nebenan von der Schlackeverwertung Breisgau zu Baustoffen weiterverarbeitet und z.B. als Unterbau für Straßenbelag und zur Endabdeckung der geschlossenen Deponie Eichelbuck eingesetzt. Schlackereste, die nicht weiter verwendet werden können, werden in Deponien der umliegenden Landkreise eingelagert.
Bauschutt wird von der ASF stofflich und im Volumen nur begrenzt angenommen. Je nach Typ des Schutts fallen dafür gesonderte Kostenan. Die ASF übergibt den Schutt an darauf spezialisierte Entsorgungsfirmen Firmen wie z.B. die FEBA. Sonderabfälle wie Asbest oder Mineralfasern werden auf der Deponie Kahlenbergin Ringsheim endgelagert. Wer eine Baustelle hat, muss eine Recyclingfirma beauftragen und sich vorher informieren, wie er den Schutt vorsortieren muss, damit er zur Abholung akzeptiert wird.
Papier wird auf dem Gelände der Remondis an der Liebigstraße umgeschlagen und dann meist nach Gernsbach aber auch deutschlandweit an Papierwerke verkauft. Recyclingpapier besteht aus bis zu 85 % Altpapier. Papier kann so fast komplett recycelt werden. Daher ist der Kauf von Recycling-(Toiletten)Papier gut für die Umwelt.
Glas wird nach Farben getrennt gesammelt, da es wieder Sortenrein für neue Gefäße gegossen wird. Nach der Sammlung wird es ebenfalls von Remondis umgeschlagen. Weiß- und Grünglas wird an eine Glashütte in Achern geliefert, Braunglas an eine Glashütte in Bad Wurzach. Das sind erhebliche Transportwege von bis zu 200 km. Glas ist schwer, nicht selten schwerer als der Inhalt. Die langen Transportwege führen daher zu einen hohen Ausstoß von CO2. Außerdem muss man Glas zum Schmelzen auf über 1200 °C erhitzen. Der Umwelt hilft es daher enorm, wenn man Leitungswasser trinkt (evtl. Kohlensäure zugibt), das zudem besser kontrolliert wird als jedes Lebensmittel. Bei Getränken hat die Kunststoffflasche aufgrund ihres geringeren Gewichts meist die bessere Ökobilanz und Flaschen namhafter Hersteller sind innen schon seit Längerem mit einer hauchdünnen Schicht Glas versehen, so dass man auch geschmacklich dasselbe Ergebnis hat, wie wenn man aus einer Glasflasche trinkt. Mehrweg ist natürlich auch bei Kunststoff die umweltfreundlichste Lösung.
Textilien werden in Altkleidercontainern, meist von gemeinnützigen Vereinen gesammelt. Die meisten Vereine haben einen Vertrag mit der ASF, die die Container betreut und bei jeder Leerung den Inhalt wiegt. Pro Tonne Altkleider zahlen Verwerter aktuell um die 300 €. Vom Erlös geht ein vertraglich festgelegter Betrag an die Vereine. Die ASF sortiert manuell alles aus, was kein Textil ist. Danach übernehmen andere Firmen. Diese sortieren gut erhaltene Stücke aus und verkaufen sie weltweit im Second-Hand-Markt. Nicht verkaufbare Kleidung wird ebenfalls weltweit weiter verarbeitet. Typisch sind Fasern für die Dämmung von Autokarossen oder für Putzlappen. Was auch dafür nicht verwendet werden kann, kann verbrannt oder deponiert werden. Da die Verwerter Geld für die Altkleider bezahlt haben, sind sie nicht daran interessiert, Geld fürs Verbrennen oder Deponieren auszugeben und so sind unsere Altkleider auch oft Teil der Müllberge anderer Länder. Besonders Schuhe lassen sich nur schwer recyceln, da Sohlen aus Gummi mit anderen Kunststoffen und Leder verklebt sind. Jeder Deutsche wirft jedoch 5 paar Schuhe im Jahr weg. Insofern ist es sinnvoll, nicht mehr tragbare Schuhe in die Restmülltonne zu geben, weil sie dann nicht ins Ausland gelangen. Was nicht mehr tragbar heißt, ist in dieser Broschüre anhand von Fotos erläutert.
Biomüll wird in die Remondis-Tochterfirma Reterra an der Tullastraße geliefert. Dort werden zuerst Metalle und bestmöglich Kunststoffe aussortiert. DerMüll kommt dann für ca. 1 Monat zusammen mit Wasser in einen Gärbehälter. Das entstehende Biogas wird gesammelt und in Blockheizkraftwerken vor Ort und in Landwasser verbrannt. Die gegärte Masse wird entwässert. Die so erhaltene Flüssigkeit wird als Flüssigdünger an Landwirte verkauft. Die festen Reste werden getrocknet und dann gesiebt. Die groben, holzigen Bestandteile werden in Biomassekraftwerken verbrannt. Die feinen Anteile werden als Kompost an Landwirte und Gärtner verkauft. Dabei ist es ein großes Problem, wenn Bioabfall in Plastiksäcken eingeworfen wird, denn die feinen Plastikfetzen von den Säcken können nur bedingt entfernt werden. Viele Fetzen landen im Kompost und gelangen so auf Felder und Gärten und bleiben dort für Jahrzehnte.
Elektrogeräte werden unter anderem zur Firma ALBA Electronics Recycling in Lustadt geliefert. Dort werden die Geräte mit viel Handarbeit auseinandergebaut und die Wertstoffe so sortenrein vorsortiert. Zur endgültigen Gewinnung werden diese dann an weitere Firmen wie z.B. Kupferhütten geliefert.
Verpackungen werden in gelben Säcken gesammelt. Die Stadt hatte 1994–95 einmal gelbe Tonnen, doch zu viele BürgerInnen haben darin ihren Hausmüll geworfen, um Kosten zu sparen. Die gelben Säcke werden an der Liebigstraße umgeschlagen und an derzeit 9 Firmen verteilt, die vom Dualen System beauftragt sind und von den Herstellern der Produkte bezahlt werden. Dabei werden die gelben Säcke weit gefahren, z.B. bis nach Neustadt an der Weinstraße. Dort werden sie sortiert. Metalle werden von Kunststoffen getrennt. Sortenreine Kunststoffe können schnell und effektiv herausgefiltert werden. Je nach Kunststoffsorte kann man neue Verpackungen herstellen, indem man bis zu 70 % Recyclingmaterial verwendet. Problematisch sind Kunststoffmischungen. So bestehen klassische Kaffeekapseln aus 2–3 verschiedenen Kunststoffen, die man nicht mehr trennen kann. Man kann solche Kapseln daher nur als Rohölersatz z.B. bei der Zementherstellung verbrennen. Kaffeekapseln sind generell ein Frevel an der Umwelt, denn Kapseln aus Aluminium sind nicht besser, aber Mischkunststoffe stecken auch in vielen anderen Verpackungen. Um die Entwicklung in Richtung sortenreiner Verpackungen zu lenken, gilt ab 2019 ein neues Verpackungsgesetz, das die Recyclebarkeit fördert.
Dass es in und um Freiburg keine Sortieranlage für Verpackungen gibt, erscheint erst einmal schlecht für die Umwelt. Man muss jedoch schauen, wo die Firmen sitzen, die neue Verpackungen herstellen. Sitzen die z.B. im Rhein-Main-Gebiet, ist es kein Nachteil die gelben Säcke in der Pfalz zu sortieren. Doch jeder sortierte Wertstoff muss zu einem anderen Betrieb gebracht werden. Das ist ein so großer logistischer Aufwand, dass fast jeder sechste LKW auf den Autobahnen Müll/Recyclingstoffe transportiert. Auch wenn unsere Recyclingquote in Europa spitze ist, heißt das also nicht, dass es auch besser für die Umwelt ist. Schlussendlich hilft nur Müll zu vermeiden. Und bei den Verpackungen kann jeder von uns noch viel sparen. Von den Flächenländern der EU produziert nur Dänemark mehr Müll als wir; das zeigt das Einsparpotential.
Ein Redaktionsmitglied des Stühlinger Magazins wird als Ex-Ossi oft damit konfrontiert, was denn in seiner alten Heimat los ist. Zum Tag der deutschen Einheit hat er daher einen längeren Artikel geschrieben, durch den vielleicht klar wird, warum es solche Unterschiede in den Ansichten und Denkweisen zwischen Ost- und Westdeutschen gibt.
Als Ex-Ossi werde ich oft damit konfrontiert, was denn in meiner alten Heimat los ist. Mir fällt dabei auf, dass die meisten Medien nicht vermitteln, warum die Ansichten und Denkweisen im Osten anders sind. Das kommt auch daher, dass es in den Chefredaktionen kaum Ostdeutsche gibt und dass auch in in Ostdeutschland selbst die überwältigende Zahl der Chefs, Richter, Generäle etc. aus dem Westen stammen.
Da es ein längerer Artikel ist, empfiehlt sich etwas Musik zum Lesen: Moderat – A new error
Um die Gefühle von vielen Ostdeutschen verstehen, gehen wir zurück in das Jahr 1990: Die Wende ist da, die Chance der Tristesse in maroden Großbetrieben zu entgehen, nicht mehr wochenlang per Tauschhandel Waren hinterherzurennen, die es ohne Westgeld nicht gab. Die Wende machte Hoffnung, dass man es nun mit harter Arbeit auch endlich zu etwas bringen, in einem schönen Haus wohnen und die Welt bereisen kann. Man konnte nun auch selbst ein Unternehmen gründen, etwas bewegen.
Das Problem daran waren die Startbedingungen. Stellen Sie sich vor, die spielen Monopoly mit 5 anderen. Alle anderen haben dasselbe Startgeld, sie aber nur ein Fünftel davon. Wer wird gewinnen und wer zuerst ausscheiden? Probieren Sie es am besten einmal aus, denn das prägt!
Übersetzt auf 1990 heißt das, 20% der Deutschen hatten so gut wie kein Startkapital. Am Ende der DDR lag das durchschnittliche Arbeitseinkommen bei 1140 Mark (der DDR). Nimmt man an, dass man etwa ein Drittel davon monatlich ansparen konnte, wären das 380 Mark, also in 10 Jahren 45.600 Mark. Bei der Währungsunion 1990 konnte man das 2:1 in Westmark tauschen, 4000 Mark sogar 1:1 (Details dazu siehe hier). Das heißt, das über 10 Jahre angesparte Geld war 24.800 Westmark wert. Immobilieneigentum gab es in der DDR systembedingt nur sehr selten, daher war das angesparte Geld auch meist das Vermögen.
Seit 1990 haben sich die Kaufpreise für Wohnungen in etwa verdoppelt. Heute kostet z.B. eine Wohnung in Dresden um die 120.000 €. Man kann also abschätzen, dass der Kaufpreis 1990 um die 60.000 €, also 120.000 Westmark gelegen hat. Dazu kommt, dass jede Wohnung erst einmal saniert werden musste. Das angesparte Geld reichte also nicht aus, um eine Wohnung, geschweige denn ein ganzes Haus zu kaufen. Dazu hätte man einen Kredit aufnehmen müssen. Doch ohne Sicherheiten, gibt es keinen Kredit und das Gehalt wurde kaum als Sicherheit akzeptiert, denn durch die Abwicklung der Betriebe wurden die allermeisten Menschen arbeitslos. Viele haben die 1990er Jahre mit Umschulungen, Arbeitslosigkeit und kurzzeitigen Beschäftigungen verbracht. Es konnten sich also nur Leute aus dem Westen und Westeuropa Häuser in Ostdeutschland kaufen, denn diese hatten entweder bereits das nötige Kapitel oder Sicherheiten für Kredite. So gehören die meisten Mietwohnungen in Ostdeutschland Menschen, die nicht vor Ort wohnen.
Viele Leute im Osten haben realisiert, dass sie es nicht aus eigener Kraft schaffen können, Wohneigentum zu erwerben, denn der Markt wird von Menschen aus dem Westen befeuert, die ihr Geld anlegen wollen. Die Kaufpreise steigen daher auch in Ostdeutschland rasant, während ein Drittel der Ostdeutschen weniger als 2000 € im Monat brutto verdienen. Als Daumenregel gilt, dass man eine Wohnung nur kaufen sollte, wenn man sie in 25 Jahren abbezahlen kann. Das hieße bei 120.000 € Kaufpreis, 25 Jahre lang jeden Monat 400 € zur Seite legen. Das können die Meisten nicht.
Wichtig für das Gefühl sind auch die vergangenen Jahre. Als 2016 der Mindestlohn eingeführt wurde, hat z.B. in Sachsen fast jeder vierte Arbeitnehmer weniger als 8,50 €/Stunde verdient. Das heißt, dass viele Menschen in den Jahren seit der Wiedervereinigung kaum etwas ansparen konnten. Dazu kommt das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Sicherlich waren viele DDR-Betriebe nicht auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig, doch die, die es waren, wurden als Konkurrenz wahrgenommen, teilweise aufgekauft und zerschlagen oder hatten einfach nicht das Startkapital, um am Markt zu bestehen. Hier zwei Beispiele: Keramikfabrik, Kühlschränke.
Dazu kommt die Psychologie, denn jeder Mensch braucht Bestätigung, dass er etwas Sinnvolles macht. In der DDR hatten z.B. hunderttausende Menschen im Bergbau gearbeitet. Deren Arbeitsleistung wurde nicht honoriert. Bergarbeiter waren die Sündenböcke für zerstörte Landschaften und sie wurden kaum unterstützt, in anderen Bereichen eine neuen Job zu finden. In Westdeutschland gab es hingegen Sozialpläne über teils Jahrzehnte, der Ausstieg aus dem Untertage-Bergbau wurde langsam und geplant vollzogen. Dass Ostdeutsche Bergarbeiter nicht dieselbe Unterstützung bekamen und bis heute Nachteile haben, löst Wut aus.
Noch 2009 lag die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bei 13 %, dazu kamen Tausende Menschen, die nicht in die Statistik kamen durch Umschulungen etc. Erst in den letzten Jahren sank die Arbeitslosigkeit auch im Osten unter 10 %. Doch wer sich 25 Jahre seines Lebens mit schlecht bezahlten Kurzzeitjobs und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Wasser gehalten hat, sieht Ausländer als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Viele Ostdeutsche sind zum Arbeiten in den Westen gependelt, haben viel Freizeit mit der Fahrerei verbracht und kennen keinen Westdeutschen, der es umgekehrt getan hat. Viele sind daher überzeugt, dass sie alles gegeben haben und fühlen, dass sie trotzdem kaum etwas erreicht haben. Mir ist diesbezüglich eine Szene im Kopf geblieben: Der Eintritt in den Schlosspark Pillnitz kostet nur 3 €. In der Schlange am Eintritt standen auch Flüchtlinge. Damit denen im Wohnheim nicht die Decke auf den Kopf fällt, sie aber kein Geld haben, durften sie umsonst in den Park. An sich eine vernünftige Entscheidung, eine Rentnerin in der Schlange hat sich jedoch fürchterlich darüber aufgeregt: Sie hat ihr ganzes Laben lang gearbeitet, kommt aber mit ihrer Rente gerade so über die Runden. Der Park ist aber nur so schön, weil er mit ihren Steuern instand gehalten wurde, ja zu DDR-Zeiten hat sie sogar unentgeltliche Arbeitseinsätze im Park gemacht und nun muss sie für den Eintritt bezahlen, während Fremde, die nie Steuern gezahlt haben, umsonst reinkommen.
Der Vorfall ist ein gutes Beispiel für das Gefühl, das viele im Osten haben. Dadurch, dass sie trotz Arbeit das Gefühl haben, nicht voll teilhaben zu können, macht sie anfällig für Angst und Neid gegenüber denen, die neu kommen. Generell ist mangelnde Teilhabe ein großes Problem, natürlich auch in Westdeutschland.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist Heimat. Nach der Wende haben viele Menschen den Osten verlassen. Dadurch standen ganze Wohngebiete leer. Die meisten ostdeutschen Gemeinden haben mehr als ein Fünftel ihrer Einwohner verloren. Und so wurde auch das Wohngebiet abgerissen, in dem ich zur Schule gegangen bin und wo meine ganzen Freunde gewohnt haben. Dafür kann die Politik nicht viel, dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass das Gefühle auslöst, im Vergleich zum Rest Deutschlands abgehängt zu sein.
Man hat zur Wende das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ angewendet. Alteigentümer bekamen ihren ehemaligen Besitz zurück, der in der DDR enteignet wurde. Dies waren meist Leute aus dem Westen, die durch ihre Enteignung aus dem Osten geflohen sind. Das Prinzip wurde bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung von den Siegermächten abgesegnet und noch vor der Wiedervereinigung von der Volkskammer per Gesetz beschlossen. Insofern ist nicht klar ob die Siegermächte anderen Regelungen zugestimmt hätten, z.B. dass man den DDR-Bewohnern die von ihnen bewohnten Gebäude und die Betriebe, in denen sie bisher gearbeitet haben, übertragen hätte. Denn wer in der Heimat Besitz und einen Job hat, verlässt sie nicht. Sicher wären dennoch auch mit dieser Methode der Übertragung an die Bewohner/Arbeiter viele Firmen pleite gegangen oder Häuser verkauft worden, doch dann hätte man die Startbedingungen für das Monopoly der Marktwirtschaft wenigsten etwas angeglichen.
Apropos Marktwirtschaft, Westdeutsche können es sich nicht vorstellen, wie es ist, quasi über Nacht ein neues Wirtschaftssystem zu haben. Man kann es sich so vorstellen, dass sich auf einmal keiner in der Welt ein deutsches Auto leisten kann, Daimler, VW und Co. abgewickelt werden müssten, Hunderttausende auf der Straße stehen und sich einen neuen Job suchen müssen, obwohl sie jeden Tag für ihre Firmen hart gearbeitet haben. Und dann würden ihnen auch noch andere sagen, dass es nur daran läge, weil sie vorher schlecht gearbeitet hätten. Man muss sich klar machen, dass die Arbeiter der DDR nichts für die staatlich verordnete Mangelwirtschaft konnten, stattdessen unter Murren und Unterdrückung ihrer Ideen versucht haben, trotz Mangel einigermaßen qualitative Produkte herzustellen.
Dazu kommt, dass im Sozialismus mehr Miteinander als Gegeneinander war, sprich, wer etwas geleistet hat, stellte eine Rechnung und die wurde auch bezahlt. Dass man Rechnungen erst einmahnen oder gar einklagen muss, mussten viele ostdeutsche Neuunternehmer bitter lernen.
Das Miteinander ist ein weiterer wichtiger Punkt. Es gab Arbeitskollektive, in denen man sich gegenseitig auch im Privaten geholfen hat. Es wurde mit den Abteilungen Ausflüge gemacht, Kinder in Ferienlagern der Betriebe im Sommer betreut, es gab ausreichend Kindergartenplätze und viele andere Dinge, die es heute so nicht mehr gibt. Es war für Viele eine große Umstellung, dass man sich um alle Dinge selber kümmern muss, also z.B. die Schule nicht mehr dafür sorgt, dass alle Schulbücher da sind, sondern dass man Schulbücher auswählen, Angebote für Ferienlager suchen und Preise vergleichen muss. Die ehemalige Lehrerin am Ende dieser Reportage bringt das gut auf den Punkt.
Und nun, was ist die Schlussfolgerung? Es gibt sicher kein Patentrezept. Es ist auf jeden Fall sehr wichtig die Löhne und Renten schnellstmöglich anzugleichen. Bei der Rente ist das bereits auf den Weg gebracht, bei den Löhnen leider nicht. Es ist ein Unding, dass wir überall einen Pflegenotstand haben, aber man dafür in Rostock bei gleicher Leistung weniger verdient als in Lübeck. Dort kann und muss die Politik eingreifen, wenn sie von den Menschen ernst genommen werden will. Aus gutem Grund wurden z.B. Frauenquoten eingeführt und man hat das Recht zu schauen, dass man als Frau genauso viel verdient wie ein Mann bei gleicher Leistung. Das ist eine Selbstverständlichkeit und was wir für Geschlechter als fair oder unfair empfinden, muss generell auch für Regionen gelten. Es würde kein Porsche-Mitarbeiter in Zuffenhausen akzeptieren, weniger zu bekommen als sein Kollege im Leipziger Werk. Um das überprüfen zu können, sollte die Politik neue Arbeitnehmerrechte schaffen. Diese sollten nicht für Ost/West sondern zum Vergleich zwischen allen Werken einer Firma gelten.
Dass die meisten Führungspositionen in Ostdeutschland nicht von Ostdeutschen besetzt sind, ist ebenfalls ein Problem, dass man angehen muss, denn Gesellschaft funktioniert nur, wenn Amtsleiter und Vorstände die Probleme der Bevölkerung kennen, weil sie darin aufgewachsen sind. Da die Situation so extrem ist, kommt man dem wahrscheinlich nur mit zeitlich befristeten Quotenregelungen für Ostdeutsche bei.