Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus (aus dem Stühlinger Magazin 2024/2)

Warum geden­ken wir heute noch den Opfern des Nationalsozialismus?

Im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vernichtungslager Treblinka nord­öst­lich von Warschau wur­den zwi­schen Juli 1942 und Ende 1943 etwa 780.000 Menschen ver­nich­tet, das heißt sie wur­den direkt nach ihrer Ankunft erschos­sen und ihre Körper ver­scharrt bzw. um den Massenmord effi­zi­en­ter zu gestal­ten, in spä­te­ren Jahren ver­gast und ver­brannt. Wassili Grossmann, der als beglei­ten­der Journalist der sowje­ti­schen Roten Armee bei der Auffindung des Lagers dabei war, brachte das Bild der Verbrennung der Menschen in ergrei­fen­den Worten zu Papier:

Die vor Entsetzen in Wahnsinn ver­fal­len­den Mütter muß­ten ihre Kinder an die glü­hen­den Ofenroste füh­ren, auf denen sich Tausende tote Körper in Flammen und Rauch krümm­ten, auf denen die Leichen sich bäum­ten und ver­krampf­ten, als leb­ten sie wie­der auf, den schwan­ge­ren toten Frauen von der Hitze der Leib geplatzt war und die vor ihrer Geburt gemor­de­ten Kinder im auf­ge­ris­se­nen Mutterleib brann­ten. (…)

Es ist unend­lich schwer, davon auch nur zu lesen. Möge der Leser nur glau­ben – es ist nicht weni­ger schwer, dar­über zu schrei­ben. Vielleicht fragt sich irgend­wer: ‚Wozu schreibt, wozu erin­nert man an all das?‘

Grossmann stellte sich die Frage nach dem Sinn der Erinnerung bereits kurz nach den Geschehnissen, als er diese Zeilen 1944 ver­öf­fent­lichte. Die Nazis hat­ten ihre eige­nen Ziele und mach­ten sich nach dem Aufstand im Lager am 2. August 1943 schnell daran, die Spuren des Vernichtungslagers so gut wie mög­lich zu ver­wi­schen.

Auf dem Gelände des ehe­ma­li­gen Vernichtungslagers ist heute daher nicht mehr viel aus der Zeit des Massenmordes zu sehen. Im Gegensatz zum Konzentrationslager Auschwitz, das zum Symbol des Holocausts gewor­den ist, gab es in Treblinka zur Hochzeit der Morde kein Arbeitslager, die Deportierten – allein 323.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto – wur­den in Waggons an den Bahnhof Treblinka gebracht. Ihnen wurde vor­ge­spielt, es handle sich um ein Durchgangslager, um mög­li­che Fluchtabsichten vor dem siche­ren Tod zu unter­gra­ben. Die auf die Ankunft ein­set­zende Vernichtungsmaschinerie war ent­setz­lich effi­zi­ent. Eineinhalb Stunden nach Ankunft im Lager waren in der Regel alle neu Angekommen bereits ermor­det. Das ist auch der Grund, warum es kaum Berichte über die­ses Lager gibt und ihm nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Wer nach Treblinka gebracht wurde, kam nicht wie­der raus. Nur wenige über­leb­ten den Aufstand im Lager im August 1943 und konn­ten aus der „Hölle von Treblinka“ (so Grossmann) flie­hen.

Nur wenige Namen der Ermordeten sind heute bekannt, etwa Janusz Korczak, Kinderarzt und Leiter eines Waisenhauses, der aus freien Stücken die Kinder sei­nes Waisenhauses in das Vernichtungslager beglei­tete und dort mit ihnen in den Tod ging. Die meis­ten der Hunderttausenden Ermordeten aber wur­den ihrer Geschichte, ihrer Erinnerung beraubt. Ihre Namen wur­den von den Nazis getilgt.

Einige der 17.000 Granitblöcke des Gedenkstätte an das Vernichtungslager Treblinka in Gedenken an die Ermordeten. Jeder Block sym­bo­li­siert eine jüdi­sche Gemeinde.

Heute gibt es am Eingang zur Gedenkstätte ein klei­nes, aber ein­drück­li­ches Museum, große Steine zei­gen die Lagergrenzen auf, am eigent­li­chen ehe­ma­li­gen Areal des Vernichtungslagers befin­det sich ein Denkmal in Erinnerung an alle Menschen, die dort ermor­det wur­den. Viele Steine geden­ken derer, die namen­los geblie­ben sind und denen die Nazis ver­sucht haben ihre Erinnerung und Menschlichkeit zu rau­ben. Dieses Denkmal ist umran­det von einem dicken, ruhi­gen und fried­li­chen Wald, der einen von der Außenwelt kom­plett abgrenzt und eine Ruhe her­vor­ruft, die sel­ten zu fin­den ist. Wenn man dort steht, ein­ge­kreist von den Steinen, die für die Menschen ste­hen, die dort ihr Leben las­sen muss­ten, kann man sich kaum vor­stel­len, wel­che Rufe, wel­ches Leid, wel­che Gebete, wel­che Schreie, Wünsche und Schicksale er damals ver­schluckte und den Weg nach drau­ßen ver­drängte.

Auch wenn wir all diese Gebete und das Grauen nicht nach­voll­zie­hen kön­nen, gar voll begrei­fen kön­nen, dür­fen wir uns davon nicht abwen­den, im Gegenteil. Wassili Grossmann schreibt als Antwort auf die von ihm auf­ge­wor­fene Frage, warum man der Geschehnisse erin­nern sollte: „Von der furcht­ba­ren Wahrheit zu berich­ten, ist die Pflicht eines Schriftstellers, und die Bürgerpflicht des Lesers ist es, sie zu erfah­ren. Jeder, der sich abwen­det, die Augen schließt und vor­bei­geht, ver­letzt das Andenken der Gemordeten.

Dieser Satz hat bis heute Gültigkeit. Auch wenn es durch den Verlust der Augenzeugen der Ereignisse schwie­ri­ger wird, ihrer zu geden­ken – sie tre­ten aus der erleb­ten Erinnerung in die Geschichte ein – müs­sen wir uns als Bürgerinnen und Bürger des Nachfolgestaats nur die Geschichte der Bundesrepublik ins Gedächtnis rufen, um die Gültigkeit von Grossmanns Worten unter­schrei­ben zu kön­nen. Grossmanns Entsetzen über die indus­tri­elle Ermordung im Vernichtungslager spricht aus jeder Zeile sei­nes Berichts „Die Hölle von Treblinka“. Aus ihnen lässt sich die völ­lige Entfernung des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschlands von jeg­li­cher Menschlichkeit lesen. Deutschland war mora­lisch bank­rott.

Nur durch die west­li­chen Alliierten gelang es aus dem Trümmerhaufen von Städten und Menschen einen neuen und demo­kra­ti­schen Staat auf­zu­bauen. Die dar­aus ent­ste­hende Bundesrepublik war eine sol­che Erfolgsgeschichte, dass vie­len Menschen in Deutschland heute nicht bewusst zu sein scheint, auf wel­chen Trümmern der Vergangenheit die Bundesrepublik, die gerade ihren 75. Geburtstag fei­erte, gebaut wurde. Grundlage waren völ­lig zer­störte Städte und die geis­ti­gen Ruinen des Dritten Reiches, des­sen Gedankengut noch immer in vie­len Köpfen der Deutschen steckte. Der Nationalsozialismus, die Ermordung von 6 Millionen Juden, der zweite Weltkrieg, den allein Deutschland zu ver­ant­wor­ten hatte, sind das Schreckensbild, als des­sen Gegenentwurf die Bundesrepublik gegrün­det wurde.

Zweifellos war diese Sicht durch die Politik der Alliierten nicht direkt in das Bewusstsein der deut­schen Bevölkerung gepflanzt wor­den und konnte dort von Anfang an wider­stands­los gedei­hen. Erst Jahrzehnte nach dem zwei­ten Weltkrieg und der Shoah, als viele der Täter und Mitläufer bereits ver­stor­ben waren, ent­wi­ckelte sich die deut­sche Erinnerungskultur. Allgemein wird der 8. Mai 1985 als ein Wendepunkt der Erinnerungskultur mar­kiert, an dem der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in sei­ner Rede, damals im Bundestag in Bonn, sprach: „Das Vergessenwollen ver­län­gert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Der 8. Mai 1945, der Tag der bedin­gungs­lo­sen Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten, sollte nicht mehr als Tag der Niederlage, son­dern als Tag der Befreiung gese­hen wer­den.

Darum, um dem Vergessen und Verdrängen der Menschen ent­ge­gen­zu­wir­ken, um zu zei­gen, wie fehl­ge­lei­tet alle Relativierungen des Nationalsozialismus und der Shoah sind, um den Menschen, die in Treblinka und ande­ren Vernichtungslagern, Arbeitslagern, bela­ger­ten Städten oder im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben ver­lo­ren Erinnerung und Würde auf­recht­zu­er­hal­ten, geden­ken wir heute noch der Gräueltaten der Nationalsozialisten und vor allem: der Menschen, die die Schreckensherrschaft nicht über­lebt haben.

„Nie wie­der“ auf Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch am Monument zur Erinnerung an die Ermordeten in Treblinka

Text: Franziska Ehmer
Bilder: Xaver Ehmer-Kretzschmar

Wer sich nicht an die Vergangenheit erin­nern kann, ist dazu ver­dammt, sie zu wie­der­ho­len“

SPD-Landesvorsitzender Andreas Stock und der Stühlinger SPD-Vorsitzende Joshua Lorenz gedach­ten der Opfer des deut­schen Fliegerangriffs vom 10. Mai 1940 auf den Stühlinger

Joshua Lorenz und Andreas Stoch (v.l.n.r.) bei der Granzniederledung am 10. Mai 2024

Mit Niederlegung eines Blumengebindes auf dem Gedenkstein des Hildaspielplatzes gedach­ten Andreas Stoch, Oppositionsführer im baden-würt­tem­ber­gi­schen Landtag, und Joshua Lorenz, Ortsvereinsvorsitzende der Stühlinger SPD, der Opfer des irr­tüm­li­chen deut­schen Fliegerangriffes am 10. Mai 1940 auf den Stühlinger. Stoch hob in sei­ner Gedenkansprache her­vor, dass der­je­nige, der sich nicht an die Vergangenheit erin­nern kann, dazu ver­dammt ist, sie zu wie­der­ho­len. Er, Joshua Lorenz und Marie Battran-Berger vom Friedensforum Freiburg stell­ten Bezüge des dama­li­gen Ereignisses zum Ukrainekrieg und der krie­ge­ri­schen Auseinandersetzung im Gazastreifen her.